Kalte Güsse stehen im Vordergrund des Kneipp’schen Konzepts. Aber auch pflanzliche Mittel, Bewegung, gesunde Ernährung und Ordnungstherapie gehören dazu
Ein bisschen Überwindung kostet es schon, noch leicht bettwarm hinaus in die Morgenkühle des Gartens oder in den nahe gelegenen Park zu gehen und dort mit bloßen Füßen durch das feuchte Gras zu laufen. Dabei spüren Sie das Kitzeln der Halme zwischen den Zehen, den unebenen Boden und die frische Luft. „Drei bis fünf Minuten genügen für dieses Tautreten nach Kneipp. Es macht uns geistig wach und wirkt ausgleichend auf unser vegetatives Nervensystem, das die Atmung, Herzfrequenz, Verdauung und die Durchblutung der inneren Organe steuert“, sagt Professor Eberhard Volger.
Er ist Wissenschaftlicher Leiter der Ärztegesellschaft für Präventionsmedizin und klassische Naturheilverfahren (Kneippärztebund). Nach dem Spaziergang über die Wiese rasch Erdkrumen und Steinchen von den Sohlen streifen und in trockene Strümpfe und Schuhe schlüpfen. Noch einmal bis zu eine Viertelstunde „etwas schneller, allmählich im gewöhnlichen Tempo gehen“, riet Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) aus dem heutigen Bad Wörishofen seinen Patienten. Für ihn galt diese Anwendung „als das natürlichste und einfachste Abhärtungsmittel“.
Durch die feuchte Kälte ziehen sich zunächst die Blutgefäße zusammen, um sich anschließend weit zu öffnen. „Dieses Training der Gefäße wirkt sich auf den ganzen Körper aus und macht Menschen beispielsweise weniger anfällig für Infekte“, weiß Dr. Katrin Goedsche vom Kompetenzzentrum Naturheilverfahren der Universitätsklinik Jena. Obendrein werden die Füße wunderbar warm. Gibt es keine Grünfläche in der Nähe, können Sie drinnen in der Badewanne Wasser treten. Dabei die rutschfeste Matte nicht vergessen. Das Wasser sollte etwa drei Viertel des Unterschenkels bedecken. „Wie ein Storch heben Sie auf der Stelle abwechselnd die Beine hoch – die Füße kommen aus dem kalten Wasser heraus und tauchen wieder ein“, erklärt Internist Volger.
Wie alle Kneipp’schen Anwendungen sollten Sie auch diese nie so lange durchführen, dass Sie ins Frösteln kommen. Beginnen Sie mit 30 Sekunden, und steigern Sie Zug um Zug auf höchstens drei Minuten. Nach dem Wassertreten gilt: dicke Socken anziehen und sich rasch bewegen, wenn möglich im Freien. Sebastian Kneipp ließ seine Kurgäste zum Beispiel Holz hacken. Nur wer dieses Training ein paar Wochen lang regelmäßig wiederholt, spürt eine Wirkung. Die Übung eignet sich jedoch nicht, wenn Sie akut erkrankt sind oder an einer empfindlichen Blase leiden. Chronisch Kranke sollten ihren Arzt fragen.
Mehr als hundert verschiedene Wasseranwendungen empfahl der Pfarrer aus dem Allgäu: Waschungen, Güsse, Wickel, Auflagen, Packungen, Dämpfe, Bäder – auch mit pflanzlichen Zusätzen – und nicht zuletzt das Trockenbürsten. Dass Kneipp dem Wasser so viel Wirkung zusprach, hatte seine Gründe. Als Student war er schwer an Tuberkulose erkrankt. Zu seiner Zeit gab es noch keine Medikamente dagegen. Zufällig stieß er auf ein Buch, in dem ein schlesischer Arzt die schon im klassischen Griechenland angewandte Hydrotherapie (griechisch hydro = Wasser) beschrieb, die bei Lungenleiden helfen sollte. Er probierte sie aus – mit Erfolg.
Das Prinzip dahinter: Unser Körper registriert eine Wassertemperatur, die von der Hauttemperatur abweicht, als Reiz. Je größer der Unterschied, desto stärker der Reiz. Über die Körperhülle führt das auf direktem Weg zu einer Reaktion. „Die Haut ist besser durchblutet, und Immunzellen schütten Botenstoffe aus, die das Abwehrsystem des Organismus aktivieren“, erklärt Goedsche. Darüber hinaus reagiert der Körper etwa durch einen plötzlichen Kältereiz und mobilisiert Stresshormone. Werden die Anwendungen regelmäßig wiederholt, gewöhnt sich der Körper daran. „Ein niedriger Blutdruck erhöht sich beispielsweise, ein hoher kann ein wenig sinken, was dann hilft, Medikamente einzusparen“, erläutert Volger. Diese positiven Wirkungen zeigte kürzlich eine Studie an der Klinik Bad Wörishofen. Wasseranwendungen können also Beschwerden lindern, vor allem gelten sie jedoch als vorbeugendes Mittel.
„Doch das alleine ist es nicht, was Kneipp ausmacht“, betont Volger. „Erst zusammen mit den weiteren Therapie-Elementen wirkt das Ganze.“ Da gibt es zum einen pflanzliche Zusätze, die dem Wasser beigegeben werden, sowie Tinkturen und Teezubereitungen, die von innen heraus Probleme mildern und vorbeugen sollen. Kneipp entwickelte gemeinsam mit dem Apotheker Leonhard Ohrhäußer zahlreiche Rezepturen und Anwendungen, etwa den Heublumensack. Dieser wirkt als Wärmepackung, und mit seinen würzigen Inhaltsstoffen entspannt er die Muskeln und beruhigt die Sinne. Eine ähnlich wohltuende Wirkung zeigt ein Sud aus Heublumen im Badewasser. Auch andere Pflanzen haben in der Kneipp’schen Gesundheitslehre ihren Platz: Salat aus Löwenzahn beispielsweise regt durch Bitterstoffe die Verdauung an, Wacholderbeeren stärken einen schwachen Magen, Tees aus Birkenblättern und Brennnesseln fördern die Ausscheidung von Wasser, und Sitzbäder mit Zinnkraut lindern Hämorriden.
Bewegung – insbesondere Ausdauersport – ist eine weitere Säule. Kneipp empfahl das Wandern. „Heute sollte jeder die sportliche Aktivität wählen, die ihm am meisten Spaß macht“, meint Volger.
Bei der Ernährung setzte Kneipp auf fettarme und abwechslungsreiche Kost. Dazu gehören viel saisonales Gemüse und Obst sowie Kohlenhydrate in komplexer Form, zum Beispiel als Hülsenfrüchte oder als volles Korn.
Von feinen Mehlspeisen und zu viel Fleisch hielt Kneipp nichts. Vor allem schwärmte er von seiner „Kraftsuppe“ mit getrockneten Brotbröckchen oder frisch gerösteter Gerste. „Bei mir lautet die Hauptregel: trockene, einfache, nicht verkünstelte und durch scharfe Gewürze verdorbene Hausmannskost“, schrieb er in seinem Buch „So sollt ihr leben“. Auch heute noch gelten seine Empfehlungen als modern.
„Kneipp hat seine Lehre intuitiv und aufgrund seiner Erfahrung entwickelt“, betont Eberhard Volger. Auch die sogenannte Ordnungstherapie ist ein Teil seiner Heilkünste. Sebastian Kneipp verstand darunter eine ausgewogene, sinnvolle Lebensführung. Jeder sollte das rechte Maß für sich finden. Das galt für die Arbeit ebenso wie für die Erholung. „Bei ihm als Priester war diese Vorstellung tief religiös und spirituell geprägt“, erläutert Volger. „Doch auch wer mit Religion wenig anfangen kann, wird immer wieder auf die Suche nach dem Sinn in seinem Leben gehen.“
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