Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen. Die daraus entstehenden Risiken ließen sich verringern

Das Mittel galt als besonders gut verträglich und als so harmlos, dass es rezeptfrei zu haben war. Hunderttausende, unter ihnen viele schwangere Frauen, schluckten die Pillen, die beruhigten und einen guten Schlaf versprachen. Erst als in ganz Deutschland Kinder mit verkrüppelten oder fehlenden Gliedmaßen auf die Welt kamen, schöpften Ärzte Verdacht. Im November 1961, gut vier Jahre nach der Zulassung, nahm die Hersteller-Firma Grünenthal die Arznei vom Markt. Mindestens 5000 Geschädigte, die Hälfte davon in Deutschland, so lautet die Schreckensbilanz.
 
Der Fall Contergan
 
Contergan steht für die größte Arzneimittel-Katastrophe der Geschichte. Der fünfzigste Jahrestag seiner Zulassung brachte das Desaster wieder in Erinnerung – und warf die bange Frage auf, ob sich so etwas wiederholen könnte. „Völlig ausschließen lässt sich das nie“, meint Professor Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, einer Organisation, die sich intensiv mit den Risiken von Medikamenten beschäftigt. „Gravierende, auch tödlich verlaufende unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln sind immer möglich“, erklärt Ludwig, „allerdings kaum mehr in einem Ausmaß wie bei Contergan.“

Seit 1978 müssen Arzneimittel in klinischen Studien mit definierten Phasen bei Patienten getestet werden, um eine Zulassung zu erhalten. Außerdem müssen Hersteller und Behörden nach der Freigabe systematisch beobachten, ob zuvor unerkannte Risiken auftauchen. „Pharmakovigilanz“ lautet der Fachbegriff – Wachheit und Aufmerksamkeit hinsichtlich Arzneimittelrisiken.
 
Zulassungsstudien lassen Lücken

Wirksame Medikamente können meist auch unerwünschte Nebenwirkungen auslösen – mal mehr, mal weniger schwere, mal häufige, mal seltene. Die seltenen zeigen sich oft erst dann, wenn schon Zehn- oder Hunderttausende Patienten das Mittel genommen haben. Denn die Zulassungsstudien umfassen nur einige Hundert bis wenige Tausend Menschen, die zudem meist nicht den älteren, mehrfach kranken Durchschnittspatienten repräsentieren.
 
Das Spontanmeldesystem

Die zuständige Behörde prüft alle Hinweise zu Nebenwirkungen und wertet diese aus – ein wichtiges Überwachungsinstrument.

Als wichtigstes Überwachungsinstrument dient das „Spontanmeldesystem“. Die zuständigen Behörden dokumentieren und prüfen alle Meldungen und werten sie aus.

Bei Bedarf können sie die Hersteller verpflichten, einen Warnhinweis in die Fachinformation aufzunehmen – den „Beipackzettel“ für Ärzte – oder die Mediziner in einem sogenannten Rote-Hand-Brief darauf aufmerksam zu machen. Erscheint eine Warnung als nicht ausreichend, können die Behörden das Anwendungsgebiet eines Medikaments einschränken oder die Anwendung bei bestimmten Patienten ausschließen.

Als härteste Entscheidung bleibt der Entzug der Zulassung. Das passiert gar nicht so selten.

Jüngste Beispiele:

-Im vergangenen November ordnete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) das Ruhen der Zulassung für Lumiracoxib an, ein Schmerzmittel neuerer Generation. Der Grund waren Berichte über Leberschäden durch das Medikament. Zuvor waren schon zwei andere Präparate aus der gleichen Wirkstoffgruppe verboten worden, da sie Herzleiden begünstigt hatten.

-Ebenfalls im November zog das BfArM Aprotinin aus dem Verkehr, ein blutstillendes Mittel für Herzoperationen. Einer Studie zufolge erhöht die Substanz das Risiko, binnen 30 Tagen nach dem Eingriff zu sterben.

-Bereits im August hatte die Behörde die Reißleine für Clobutinol-haltige Mittel gezogen. Diese seit 1961 millionenfach angewandten Hustenstiller hatten in seltenen Fällen lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen verursacht.

„Das generelle Kriterium für solche Entscheidungen ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis eines Medikaments“, erklärt Professor Ulrich Hagemann, Leiter der zuständigen Abteilung für Pharmakovigilanz des BfArM. „Bei einem Krebsmedikament ohne Alternative nimmt man eher schwere Nebenwirkungen in Kauf als bei einem Schnupfenmittel“, nennt Hagemann ein Beispiel. Es gebe keine festgelegte Skala, die anzeigt, in welchen Fällen eine Arznei vom Markt zu nehmen wäre, „das sind immer Einzelfallentscheidungen.“

Problem: Zuwenig Fälle werden gemeldet

Kritiker weisen allerdings auf Mängel des Meldesystems hin. Hauptproblem: Nur fünf bis zehn Prozent der Ärzte, so ergab eine Erhebung der Arzneimittelkommission der Ärzte, melden Verdachtsfälle, obwohl nach der Berufsordnung alle dazu verpflichtet wären.

Vermeidbare Anwendungsfehler

Oft liegen die Probleme indes nicht im Medikament selbst begründet, sondern in der falschen Anwendung. Ärzte wählen etwa die falsche Dosis oder berücksichtigen Vorerkrankungen sowie Wechselwirkungen mit anderen Arzneien nicht. Auch die Patienten selbst tragen oft unbewusst zu solchen Risiken bei, weil sie die Einnahme rezeptfreier Arzneien verschweigen.

Häufige Fehler bei Arztwechsel

Bisweilen würde es allerdings genügen, Ärzte informierten sich gegenseitig besser: Besonders häufig treten Fehler bei Arztwechseln oder nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf, wie Wolf-Dieter Ludwig, im Hauptberuf Krebsarzt an der Charité in Berlin, aus eigener Erfahrung bestätigen kann.

Die Folgen: Rund fünf Prozent aller Klinikaufenthalte sind den Nebenwirkungen von Arzneimitteln geschuldet. In den USA und England sollen Studien zufolge mehr Menschen an Nebenwirkungen von Arzneien oder Verordnungsfehlern sterben als im Straßenverkehr. Experten sind sich uneins, wie solide diese Daten sind und ob sie sich auf Deutschland übertragen lassen. Doch wie hoch auch immer die Zahl der Todesopfer und Geschädigten ist: „Es gibt sie, und in jedem zweiten Fall wäre dies vermeidbar“, schätzt Ludwig.

Auch das Gesundheitsministerium hat das Problem erkannt. Gemeinsam mit der Arzneimittelkommission der Ärzte veröffentlichte es kürzlich einen „Aktionsplan 2008/2009 zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland“, der eine Reihe konkreter Maßnahmen nennt, die Zuständigkeit festlegt und einen Zeitrahmen vorgibt. Häufig fallen dabei die Begriffe „Analyse“, „Erhebung“ oder „Erarbeitung von Vorschlägen“ – ein Indiz dafür, dass viele Versäumnisse aufzuholen sind. Doch das Papier enthält auch praktische Tipps – etwa den, neue Medikamente mit einem Symbol zu kennzeichnen, damit Patienten und Ärzte besonders auf Probleme achten.

Hilfe durch Computer

Einer der Vorschläge wird an der Universitätsklinik Heidelberg bereits umgesetzt: Rund 5500 Computer sind dort mit einem speziellen Programm ausgestattet. Tippt ein Arzt seine Verordnung ein, gleicht der Computer diese mit Patientendaten ab; braucht der etwa wegen schlechter Nierenfunktion eine niedrigere Dosis, drohen Wechselwirkungen oder Doppelverordnungen, wird der Arzt gewarnt. „Wir haben auf diese Art zum Beispiel die häufigen Probleme halbiert, die durch unerlaubtes Teilen mancher Arzneimittel auftreten“, berichtet Professor Walter Haefeli, Leiter der Abteilung Klinische Pharmakologie.

Möglich wären ähnliche Systeme auch bei niedergelassenen Ärzten, wenn die elektronische Gesundheitskarte eingeführt wird. Sie erlaubt, alle Medikamente zu speichern, die ihr Besitzer einnimmt – auf freiwilliger Basis. „Ich habe nie verstanden“, sagt Haefeli, „warum man sich diese Chance entgehen lassen soll.“

Unter anderem auf mehr wissenschaftliche Studien setzt BfArM-Experte Ulrich Hagemann. Diese lassen sich bisher kaum gegen den Willen der Firmen anordnen. Das soll sich ändern, kündigt EU-Kommissar Günter Verheugen an. Auch die Kommission will die Pharmakovigilanz verbessern – unter anderem mit einer Verpflichtung zu Sicherheitsstudien nach Zulassung eines Arzneimittels. Wolf-Dieter Ludwig plädiert hier für mehr Verbindlichkeit: „Wenn der Hersteller die Daten dann nicht innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, sollte die Zulassung erst einmal ruhen.“

Apotheken Umschau, Bildnachweis: PhotoDisc