Hektik und Stress lassen uns vergessen, richtig Luft zu holen. So lernen Sie es wieder

Niemand kann es lassen. Das Neugeborene begrüßt das Leben, indem es seinen ersten Atemzug tut, der Sterbende verabschiedet sich mit einem letzten Lufthauch. Dazwischen atmen wir meistens, ohne groß darüber nachzudenken. Ein und aus – etwa 20.000 Mal am Tag. Ein halber Liter Sauerstoff gelangt mit jedem Atemzug in die Lunge, das macht hochgerechnet auf ein durchschnittliches Menschenleben 300 Millionen Liter.
 
Mit der geatmeten Luft fangen wir einiges an. Wir brauchen sie zum Sprechen, Singen oder Schreien, zum Lachen vor Freude wie zum Schnauben vor Wut. Wir halten sie an, wenn es im Kino spannend wird, oder keuchen sie nach 300 anstrengenden Treppenstufen auf den Aussichtsturm aus den Lungen.
Wir lassen sie sanft fließen, wenn wir uns an einem Sonntagmorgen noch einmal ins Bett kuscheln können. Jeder atmet auf seine Weise. „Der Atemrhythmus ist so individuell wie ein Fingerabdruck“, sagt die Atemtherapeutin Veronika Langguth.
 
Kurzatmige Computer-Arbeiter 
 
Für Langguth ist der Atem eine Art Seismograf, der zeigt, wie es uns geht, was wir fühlen, wer wir sind. „Schon ein Gedanke kann die Atmung verändern“, betont sie. Daran, wie zum Beispiel jemand einatmet, kann die Therapeutin gut erkennen, wen sie vor sich hat. „Ungeduldige, tatkräftige Menschen etwa ziehen die Luft willentlich ein und können gar nicht abwarten, bis der Atem von selbst kommt“, erzählt sie. 
 
Atmet jemand etappenweise aus, oder lässt er die Luft fließen? Gönnt er sich die eigentlich natürliche Pause nach dem Ausatmen? Auch die Stimme verrät etwas über die Atmung. Sind etwa die Bauchmuskeln ständig angespannt, klingt sie gepresst. Die Körperhaltung besitzt ebenfalls einen Einfluss. Vom ständigen Sitzen vor dem Computer haben viele Menschen eine verkürzte Brustmuskulatur und können nicht mehr richtig in den Bauch atmen.
 
Ausatmen ist eine Kunst

Im Lauf des Lebens verfällt beinahe jeder in Atemmuster, die nicht gut tun. „Wir werden sehr schnell von unserer natürlichen Atmung getrennt“, sagt die Münchner Yogalehrerin Doris Iding. Während Babys noch mit dem ganzen Körper atmen, schaffen es viele Grundschüler gerade mal bis zur Brust.

Stress und Leistungsdruck unterbrechen früh die Verbindung zwischen Körper und Atmung. Die Folge: Verspannungen – vor allem in Schultern und Nacken –, Unruhe und die Unfähigkeit, zu entspannen. Je schneller unser Leben wird, desto hektischer holen wir Luft – bis hin zur Kurzatmigkeit.

Doch langes Ausatmen kann man üben, etwa beim Joggen, Nordic Walking oder ganz normalen Gehen. „Zwei Schritte einatmen, vier Schritte ausatmen“, rät Schaar. Mit Techniken wie der Yoga-Atmung oder dem Erfahrbaren Atem nach Ilse Middendorf können Interessierte lernen, den Atem zu vertiefen. Die ehemalige Professorin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin gründete 1965 ihr erstes Institut für Atemtherapie und Atemunterricht.

Die Yoga-Atmung oder das „Pranayama“ (Prana = Energie, Atem) gehört zum Yoga wie die Körperhaltungen (Asanas) oder die Meditation. „Sie basiert auf der Vorstellung des Yoga, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Zahl von Atemzügen zur Verfügung hat“, erklärt Doris Iding. Sind diese verbraucht, stirbt er. Aus diesem Grund wird beim Yoga besonders auf langes Ein- und Ausatmen geachtet.

Kontrollieren oder Zulassen

Ein wichtiger Unterschied zum Erfahrbaren Atem: Beim Yoga wird in bestimmte Körperbereiche „hinein“-geatmet. „Es geht darum, den Atem bewusst zu lenken und darüber auch den Geist“, sagt Iding. Kontrolle und Lenkung wollte Ilse Middendorf vermeiden, als sie die Methode des Erfahrbaren Atems entwickelte.

„Kernpunkt ihres Ansatzes ist, die unbewusst laufende Atembewegung bewusst wahrzunehmen – ohne sie zu stören“, erklärt die Therapeutin Veronika Langguth. Den Atem einfach zulassen, von selbst kommen und gehen lassen – das ist allerdings gar nicht so einfach.

In sechs bis zehn Sitzungen lernen Interessierte, ein Bewusstsein für die Atembewegungen in ihrem Körper zu entwickeln. Meistens beginnt dieser Prozess damit, die Hand des Therapeuten zu spüren. Wer sich intensiver mit dem Atem beschäftigt, ob in einer Atemtherapie, im Yoga oder mit einer anderen Technik, wird merken, dass Entspannung erlernbar ist. Wer bewusster atmet, wird auch bewusster leben, meint Doris Iding. „Denn nichts bringt uns so unmittelbar mit dem Leben in Kontakt wie der Atem.“
 
Apotheken Umschau, Bildnachweis: Jupiter Images GmbH/Goodshot