Wenn Kinder zu kleinen Geheimniskrämern werden, ist das ein gutes Zeichen. Denn wer im richtigen Moment schweigen kann, hat einen wichtigen Entwicklungsschritt geschafft

Es kann eine Schachtel sein, in der Stöckchen aufbewahrt werden, ein Versteck im Garten, oder das selbst gebastelte Geschenk, das die Mama zum Geburtstag bekommen soll. Schon früh entdecken Kinder, dass sie vor anderen Menschen etwas verheimlichen können. Meist haben sie vor ihren Eltern Geheimnisse. Und auch wenn diese es nicht immer gut finden, dass die Kleinen auf einmal nicht mehr alles offenbaren, so ist das doch ein positives Zeichen.
 
„Ein Kind, das Geheimnisse hat, ist einen wichtigen Schritt in seiner Entwicklung weiter“, sagt die Professorin Elisabeth Flitner von der Universität Potsdam. Die Soziologin spürte in einer Studie Kindern und ihren Geheimnissen nach. „Sobald ein Kind begriffen hat, dass es etwas für sich behalten kann und niemand außer ihm darüber Bescheid weiß, wird ihm seine Unabhängigkeit und seine Autonomie bewusst“, erklärt die Expertin – der Beginn der Selbstständigkeit.
 
Kleinkinder besitzen noch nicht die Fähigkeit, etwas geheim zu halten. Sie glauben, dass Mama und Papa alles über sie und ihre Absichten wissen. Viele Vierjährige hingegen haben schon gelernt, was ein Geheimnis ist. „Man darf es niemandem verraten“, erklären sie. Sobald Mama oder Papa jedoch nachfragen, plappern sie meist munter drauflos und plaudern aus, dass sie im Kindergarten schon Weihnachtsgeschenke basteln oder sich Gummibärchen aus der Süßigkeitenkiste gemopst haben.
 
„Was sie allerdings schonentwickelt haben, ist das Bewusstsein, dass die Eltern nicht alles wissen“, sagt Flitner. Das Kind merkt, dass es ein Eigenleben besitzt und um sich herum Grenzen ziehen kann. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Eltern ihre kleinen Geheimniskrämer respektieren. Bei den Fünf- und Sechsjährigen klappt es mit der Geheimhaltung schon etwas besser, jedoch sind noch nicht alle wirklich konsequent dabei.
 
Woraus Kinder ein Geheimnis machen, ändert sich mit steigendem Alter. Auch dies haben Elisabeth Flitner und ihre Kollegen herausgefunden. Zunächst ist da das schöne Geheimnis, wie etwa das Wissen um einen verborgenen Gang am Spielplatz oder die Zauberkraft eines Steines.
 
„Daraus entwickelt sich dann die Fähigkeit, eine Normübertretung zu verschweigen“, erklärt die Soziologin. Das kann ein kleines Missgeschick sein, das der Sprössling den Eltern nicht mitteilt, oder auch eine verbotene Handlung wie etwa heimliches Fernsehen. Damit ziehen sich die Kleinen nicht nur geschickt aus der Affäre, wie sie selbst meinen, und kontrollieren die Situation.

Es entsteht etwas, was sie bislang nicht kannten: ein innerer Konflikt zu Mama oder Papa. „Es ist ihnen durchaus bewusst, dass sie durch das Verschweigen der Missetat etwas tun, was in den Augen der Eltern nicht recht ist“, sagt Flitner. Gleichzeitig zeigt die Überschreitung der Normen aber auch, dass sich der Handlungsspielraum des Kindes ausgedehnt hat.

Grundschüler teilen ein Geheimnis gern mit Freunden.„Dies ist nicht selten das Element, auf dem die Freundschaft gründet“, sagt die Expertin. Beste Freunde entwickeln Geheimsprachen, hinterlegen sich Botschaften in Verstecken. Und eines hat dabei absolute Priorität: Freunde verraten sich nicht. Geheimnisse festigen so die Beziehung und machen stark gegenüber den Erwachsenen.
 
Auf diese Weise gelingt es immer besser, sich von den Eltern abzugrenzen – eine wichtige Voraussetzung für die Suche nach der eigenen Identität. „An einem Geheimnis lässt sich wunderbar der Fortschritt der emotionalen und kognitiven Entwicklung eines Kindes ablesen“, erklärt Flitner.
 
Eltern müssen ihren Kleinen deshalb auch die Chance geben, Dinge für sich zu behalten. „Kinder brauchen eine Privatsphäre wie wir Erwachsene auch. Überkontrolle schränkt das kindliche Ausprobieren sehr stark ein“, sagt die Forscherin. So sollten Eltern beispielsweise nicht den Schulranzen ihres Sprösslings alleine auspacken, sondern das gemeinsam mit ihm machen. Ebenfalls tabu: bei der Aufräumaktion im Kinderzimmer einfach Sachen wegwerfen oder die Regale und Schränke ohne Rücksprache ausmisten.
 
Schließlich können die verschrumpelten Kastanien für die vierjährige Tochter der größte Schatz sein, auch wenn sie nicht damit herausrückt, was sie mit ihnen vorhat. Und wenn der Sohn oder die Tochter älter sind, sollte es selbstverständlich sein, Tagebuch und Briefe als Privatsache zu akzeptieren. Nur wenn ein Kind weiß, dass es nicht ständig kontrolliert wird, wendet es sich vertrauensvoll mit Problemen an seine Eltern.
 
Wie aber damit umgehen, wenn die Kleinen etwas verschweigen, was besser zur Sprache kommen sollte? „Selbst wenn Kinder ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Eltern haben, kann es vorkommen, dass sie Dinge verschweigen, die sie belasten“, erklärt Expertin Flitner. Weil sie ihnen peinlich sind oder weil durch Unachtsamkeit etwas kaputt oder verloren gegangen ist, wie zum Beispiel der neue Fußball, der auf dem Bolzplatz vergessen wurde. Hier brauchen Väter und Mütter ein wenig Fingerspitzengefühl.

Denn: Kommen solche Missgeschicke ans Tageslicht, sollten Eltern die Angst und Schuldgefühle der Kleinen nicht verstärken – damit diese das Vertrauen in Mama und Papa nicht verlieren und sich ihnen auch in Zukunft anvertrauen. Manchmal ist das, was Kinder geheim halten, noch belastender für sie. Weil sie sich nicht vorstellen können, dass ihnen jemand bei ihrem Problem helfen kann, sprechen sie gar nicht darüber. Bei Mobbing ist das häufig der Fall. Haben Eltern einen Verdacht, ist es oft besser, nicht sofort mit der Frage herauszuplatzen, was denn los sei.

Stattdessen sollten sie lieber den richtigen Moment dafür abwarten. „Meist bringt man ein Kind eher zum Sprechen, wenn man das Gespräch geschickt einfädelt und beispielsweise von einem anderen Kind in einer ähnlichen Situation erzählt“, sagt Flitner. Vor allem brauchen Kinder das Gefühl, dass sie jederzeit mit ihren Problemen zu Mama oder Papa kommen können.

Dann fällt es ihnen meist leichter, sich zu öffnen – auch wenn sie vielleicht von anderen verboten bekommen haben zu reden. Sie spüren dann, dass Mama und Papa nicht aus Neugier, sondern aus Sorge mit ihnen über das Geheimnis sprechen möchten.
 
Unsere Expertin:
Professor Elisabeth Flitner ist Soziologin und Professorin für Theorie der Schule an der Universität Potsdam

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