Wer an der Bluterkrankheit leidet, lebt ständig in Gefahr, seine Gelenke zu schädigen. Sport kann vorbeugen

Ein unbeabsichtigter Hüftschwung gegen die Tischkante, ein zu festes Auftreten mit dem Fuß oder ein leichtes Stolpern – normalerweise bleiben solche Ungeschicklichkeiten folgenlos. Manchmal zeigt sich später ein kleiner blauer Fleck. Für die rund 10.000 Menschen in Deutschland mit Hämophilie, einer angeborenen, vererbbaren Blutgerinnungsstörung, können diese Nichtigkeiten jedoch schlimme Konsequenzen haben. „Weil ihnen bestimmte Gerinnungsfaktoren im Blut fehlen, treten leicht Blutungen auf, vor allem in den Gelenken“, erklärt Dr. Georg Goldmann vom Hämophilie-Zentrum der Universitätsklinik in Bonn.

Damit das nicht passiert, spritzt normalerweise zunächst der Arzt den jungen Patienten mehrmals in der Woche vorbeugend je nach Form und Schwere der Störung Gerinnungssubstanzen in die Venen. Später übernehmen das die angeleiteten Eltern und irgendwann die Kranken selbst. „Das soll Blutungen im Alltag verhindern“, sagt der Mediziner Goldmann, der sich auf seltene Gerinnungserkrankungen spezialisiert hat. Denn wird eine Einblutung nicht rechtzeitig erkannt und entfernt, entstehen Entzündungen. Mit der Zeit werden Knorpel und Knochen geschädigt und die Gelenke zerstört. Noch bis vor 30 Jahren galten deshalb stark deformierte Gelenke in jungen Jahren als Zeichen der Bluterkrankheit.

Erst austesten, dann trainieren
Die leichteste Lösung bestehe darin, so dachten Mediziner lange, Hämophile von allen sportlichen Aktivitäten und spielerischen Bewegungen auszuschließen. Dies aber machte die ansonsten Gesunden bei Kameraden und Mitschülern zu Außenseitern. Und nicht nur das. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass geschonte Kinder in ihren alltäglichen Bewegungen oft ungeschickt und tollpatschig reagieren.

Dann wird ein Sturz nicht abgefangen, und die Verletzungsfolgen fallen schlimmer aus als bei jemandem, der sich viel bewegt“, erklärt Dr. Karim Kentouche, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsklinik Jena. Bluter, die ihre Muskeln regelmäßig trainieren und dabei Bewegungen koordinieren müssen, bauen Muskeln besser auf, stärken die Sehnen und die Balance. Das wiederum schützt die Gelenke.

„Denn ein guter Muskelpanzer kann in manchen Fällen vor außergewöhnlichen Blutungen schützen“, sagt Goldmann. Inzwischen setzen sich Wissenschaftler und Ärzte dafür ein, Kinder und Jugendliche frühzeitig in Bewegung zu bringen. „Damit, so hoffen wir, bleiben Hämophilie-Patienten bis ins Erwachsenenalter von Gelenkveränderungen verschont“, sagt Gerinnungsspezialist Kentouche.

Gegen vorzeitigen Gelenkverschleiß entwickelte beispielsweise Marco Herbsleb vom Lehrstuhl für Sportmedizin an der Universität Jena unter der Leitung von Professor Holger Gabriel ein individuelles Konzept für Hämophile. Es soll Kindern und Jugendlichen helfen, besser einzuschätzen, welchen Sport sie in ihrer Freizeit und in der Schule mit Gleichaltrigen treiben können und was sie besser bleiben lassen sollten.

Der Nachwuchs kann nach einem Besuch bei Kentouche in der Hämatologischen Ambulanz die sportmedizinische Einrichtung nutzen, um sich körperlich testen zu lassen. „Dabei messen wir beispielsweise Ausdauer, Kraft und Koordination und geben im Anschluss konkrete Empfehlungen für den Schul- und Freizeitsport“, sagt Sportwissenschaftler Herbsleb.

Zudem stellt er fest, ob bereits körperliche Probleme bestehen. Anhand der Ergebnisse entwickelt er für jeden Einzelnen spezielle Aufgaben und Übungen. So mancher Jugendliche konnte hier unter ärztlicher Aufsicht zum ersten Mal in seinem Leben körperlich an seine Grenzen gehen und etwa auf dem Fahrradergometer so lange in die Pedale treten, bis ihm fast die Puste wegblieb. Herbsleb berät aber auch Sportlehrer, wie sie Lehrpläne so ändern, dass ein hämophiler Schüler nicht die ganze Schulstunde auf der Bank sitzen muss.

Sportarten mit häufigem Körperkontakt, wie etwa Fußball, sind für Bluter absolut verboten. Kräftige Berührungen mit dem Boden, wie beim Weitsprung, oder mit einem Sportgerät, etwa beim Bockspringen, können sie ebenfalls gefährden. Geht es um Snowboarden, Inlineskaten oder Squashen, entscheidet die jeweilige persönliche Situation. „Häufig raten wir eher ab“, sagt Herbsleb. Spielerisches mit dem Ball – also ohne Wettkampf – ist erlaubt, zum Beispiel Passen oder besondere Koordinationsübungen. Schwimmen, Radfahren, Wandern, Yoga und Funktionsgymnastik beherrschen machen diese Kinder körperlich besonders fit.

Die Körperwahrnehmung seiner Schützlinge liegt Herbsleb besonders am Herzen: „Nur wer wahrnimmt, wie sich sein Knie anfühlt, wenn es dort zu einer Blutung kommt, oder der Muskel, wenn er müde ist, spürt, wann er sich überbeansprucht, und kann besser mit gefährlichen Situationen umgehen.“ Deshalb versucht der Sportmediziner das Gespür der Kinder und Jugendlichen für ihren Körper zu schulen, insbesondere für die Füße und Beine, „denn damit bewegen sich die Menschen nun einmal“.

Tipps für Hämophile:

  • Die Körperwahrnehmung gezielt schulen beugt Verletzungen vor.
  • Ausdauertraining wie Radfahren, Wandern und Schwimmen tut gut.
  • Auf stabiles Schuhwerk achten, das über die Knöchel reicht.
  • Lieber häufiger und kürzer bewegen.
  • Ermüdung vermeiden, denn sonst steigt das Risiko, sich zu verletzen.
  • Keine Sportarten ausüben, die in einen Wettkampf münden.
  • Erste-Hilfe-Maßnahmen beherrschen.

Bildnachweis: Panthermedia/Monkeybusiness