Ob Fieber oder Impfungen: die Suche nach einem Mittel gegen Krebs ist noch lange nicht vorbei

Während die Suche nach den verantwortlichen Faktoren und Erregern weitergeht, zeichnen sich für Experten die Konturen des möglichen Schutzmechanismus ab. Im Zentrum stehen dabei sogenannte regulatorische T-Zellen des Immunsystems. Diese erst seit gut zehn Jahren bekannten Immunakteure halten die Körperabwehr gewissermaßen in Balance.
 
Sie verhindern so zu heftige Angriffe gegen falsche Ziele, wie bei Allergien, aber auch zu schwache Reaktionen bei echter Gefahr. Damit sie das leisten können, so besagt die Theorie, benötigen sie eine Art Schulung durch den Kontakt zu Erregern. „Wenn das Immunsystem falsch reagiert, fehlt offenbar die Balance zwischen regulierenden Zellen und jenen Zellen, die den Immunangriff vollziehen“, erklärt Schultze.
 
Während die regulatorischen Zellen das Immunsystem bei Allergien zu wenig bremsen, tun sie dies bei Krebs zu stark. Je mehr von diesen Zellen den Angriff des Immunsystems auf die Geschwulst hemmen, so zeigen Befunde aus Schultzes Arbeitsgruppe, umso stärker wachsen Tumore und umso mehr verkürzen sie die Überlebenszeit. Leider, so Schultze, missbrauchen einige Gruppen die Erkenntnis, dass Bakterien und Viren die Reifung der T-Zellen anstoßen. „Obwohl für diese Reifung ein ganzer Zoo von Mikroben infrage kommt, behauptet mancher schnell, die Leute müssten Kinderkrankheiten wie die Masern durchmachen, und Impfungen seien schädlich.“
 
Mit solchen Vereinfachungen leisten Impfgegner den Menschen einen Bärendienst. Nicht nur, dass manche Eltern deswegen ihre Kinder nicht gegen potenziell tödliche Krankheiten wie Meningitis oder Masern impfen lassen; sie versagen ihrem Nachwuchs vielleicht auch einen Vorteil bei der Abwehr von Leukämie. Denn bei Teilnehmern einer kanadischen Studie senkte die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln das Risiko für Blutkrebs um mehr als die Hälfte. Eine ähnliche Wirkung haben einer britischen Forschergruppe zufolge frühe Sozialkontakte in Krippen.
 
Eine weitere Art, wie Erreger das Immunsystem aktivieren, hat Uwe Hobohm im Blick, Professor für Bioinformatik an der Fachhochschule Gießen. Sein Augenmerk gilt den „dendritischen Zellen“, die auf der Suche nach Feinden unermüdlich durch die Haut und die Schleimhäute von Darm und Atemwegen patrouillieren. Stoßen sie auf bestimmte Erregersubstanzen, treten sie in Kontakt mit T-Zellen, die den Mikroben den Garaus machen. Hobohm vermutet, dass diese Vorgänge auch bei der Abwehr von Krebs eine Rolle spielen.
 
Seiner Theorie liegen historische Beobachtungen zugrunde: In sehr seltenen Fällen verschwanden Krebsgeschwulste bei Patienten, nachdem diese eine heftige fiebrige Infektion durchgemacht hatten. Fieber spielt bei solchen Spontanheilungen laut Hobohm eine Schlüsselrolle. Seine Hypothese: Bei hoher Temperatur sterben mehr Krebs- als gesunde Zellen ab. Die dendritischen Zellen spüren die Bruchstücke auf und präsentieren sie dem Immunsystem als Angriffsziel, sodass dieses in einer Kreuzreaktion sowohl die fieberauslösenden Keime als auch den Tumor bekämpft. „Das ist allerdings im Moment lediglich graue Theorie“, räumt Hobohm ein. „Es gibt nur wenige experimentelle Daten.“
 
„Solche Hypothesen darf man aufstellen“, meint Dr. Herbert Kapp, niedergelassener Onkologe in Starnberg und Experte für Spontanheilungen bei Krebs. „Aber daraus bereits Empfehlungen abzuleiten – etwa fiebrige Infektionen nicht zu behandeln –, ist unwissenschaftlich und gefährlich.“ Fieber setzte bereits vor mehr als 100 Jahren der Arzt William Coley in den USA gegen Tumore ein: Er injizierte den Patienten Bakterien, die eine schwere Hautinfektion und hohe Körpertemperaturen auslösten. Coley erzielte einige spektakuläre Erfolge, aber oft versagten seine Spritzen auch.
 
Mit dem Aufkommen der Strahlentherapie im 20. Jahrhundert sank das Interesse an den riskanten Therapieversuchen. Einige Firmen haben das Prinzip aber wieder aufgegriffen: Sie erproben in teilweise bereits weit fortgeschrittenen Versuchen synthetische Substanzen, die ohne lebensbedrohliche Begleitinfektion die dendritischen Zellen aktivieren und so Krebstherapien unterstützen könnten.
 
Impfung mit Zusatzwirkung
 
Eine ganz andere Spur verfolgen Forscher um den emeritierten Göttinger Dermatologen Professor Klaus Kölmel und den Privatdozenten Bernd Krone, medizinischer Mikrobiologe und Laborarzt in Kassel. Sie zeigten, dass Impfungen gegen Pocken und Tuberkulose in früher Kindheit das Risiko für den „schwarzen“ Hautkrebs (Melanom) senken. Wer trotz Impfung erkrankt, überlebt den Tumor im Schnitt deutlich länger als nicht geimpfte Patienten.
 
Weil beide Impfungen heute nicht mehr empfohlen werden, suchten Kölmel und Krone nach Ersatz. Den fanden sie in der Region Venetien in Oberitalien: Zusammen mit einem italienischen Kollegen wiesen sie anhand von Impf- und Tumorregistern nach, dass auch die vielen Tropenreisenden verabreichte, besser verträgliche Gelbfieberimpfung die Zahl der Melanomfälle senkt. Ob die Schutzspritzen eines Tages als „Krebsimpfung“ eingesetzt werden? Krone mag es nicht ausschließen, „aber eine Studie in einer Region reicht dafür nicht als Grundlage“.
 
Schützen manche Bakterien, Viren und Impfungen also tatsächlich vor Krebs? Von dieser Idee ausgehend, haben Forscher zumindest interessante Konzepte entwickelt. Nun gilt es, mögliche Helfer zu identifizieren, die Vorgänge im Immunsystem aufzuklären – und jene „Experten“ zu bremsen, die Theorien mit Beweisen verwechseln und daraus vorschnell Empfehlungen ableiten.
 
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