
Aus dem Milchsaft wird Latex gewonnen. Der Rohstoff ist heute so wichtig wie einst – auch in der Medizin
Schon vor mehr als 3600 Jahren wussten die Indianer im brasilianischen Regenwald die Schätze in ihrer Umwelt zu nutzen. Vorsichtig ritzten sie die Rinde einer bestimmten Art von Bäumen an, um einen bis heute wichtigen Rohstoff zu gewinnen: Naturkautschuk.
Den zähflüssigen Milchsaft, der beim Anzapfen austrat, fingen die Eingeborenen auf und verwendeten ihn zum Abdichten von Gefäßen und Booten. Beschreibungen wie „Baumtränen“ und „fließendes Holz“ weisen darauf hin, dass der von Botanikern als Hevea brasiliensis bezeichnete Kautschukbaum die Menschen von jeher faszinierte.
Milchsaft erzeugen und speichern viele Pflanzen in ihren Gefäßsystemen – so beispielsweise der Löwenzahn, das Schöllkraut, das Immergrün und der Gummibaum in unseren Wohnzimmern. Der Kautschukbaum, der wie auch der Weihnachtsstern und der Christusdorn zu den Wolfsmilchgewächsen gehört, ist jedoch die ergiebigste Quelle.
Elastische Medizinprodukte
Woraus besteht der Stoff, aus dem heute unter anderem Medizinprodukte wie Gummiblasen, Schläuche und elastische Bänder für Druckinfusionsmanschetten, Tubusse oder orale und nasale Endotapes hergestellt werden? Hevea-Latex enthält vor allem Wasser und 30 bis 40 Prozent Kautschuk. Hinzu kommen in geringen Mengen
Zucker, Eiweiße, Harze und Wachse. In der freien Natur kann der Stamm bis zu einen Meter dick werden. Um den Baum stabil zu halten, wachsen die Pfahlwurzeln bis zu 4,5 Meter tief ins Erdreich.
Der imposante Laubbaum bildet rund ums Jahr dreiteilige Blätter aus, die an langen Stielen wachsen. Die unscheinbaren gelblichen Blüten sitzen an lockeren Rispen, in den Fruchtkapseln stecken ölhaltige Samen. Das wirtschaftliche Interesse am großflächigen Anbau erreichte Mitte des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt, nachdem der US-Chemiker Charles Goodyear 1839 das Vulkanisieren erfunden hatte. Damit ließ sich der klebrige Milchsaft zu dem formbaren, technisch nutzbaren Material Gummi verarbeiten.
Folgenreicher Samen-Schmuggel
Dem Naturforscher Henry Wickham gelang es, Samen aus Brasilien über England nach Asien zu schmuggeln. Heute sind Thailand, Indonesien, Malaysia, Indien und Vietnam die größten Gummilieferanten. Fair gehandelter Naturkautschuk stammt laut des Vereins Fair Rubber aus Sri Lanka und Indien.
Aus Brasilien kommt heute nur noch wenig Naturkautschuk, denn die meisten Hevea-Bäume dort hat der parasitäre Schlauchpilz Microcyclus ulei befallen. Er verbreitet sich schnell, weil der Baum im Regenwald immer wieder neue Blätter entwickelt. In Asien gibt es die Krankheit noch nicht, unter anderem, weil im 19. Jahrhundert nur die Samen eingeführt wurden, aber keine Stecklinge mit Blättern. Der Pilz ist jedoch
eine biologische Zeitbombe. Wenn er nach Asien käme, könnte das katastrophale Auswirkungen auf die Plantagen des Kontinents haben.
Dort verdienen Millionen von Kleinbauern und Wanderarbeitern – vor allem Frauen – ihren Lebensunterhalt mit dem Zapfen und Auffangen des klebrigen Safts. Die Bäume sind im Alter von fünf bis sieben Jahren so weit entwickelt, dass sie alle zwei bis drei Tage Latex abgeben können. Der Zapfschnitt darf jedoch nur über eine Hälfte des Stamms verlaufen, damit sich der Baum über den anderen Teil weiterhin mit Wasser und Nährstoffen versorgen kann.
Richtig zapfen will gelernt sein
Zum Anritzen benutzen die Arbeiterinnen ein Messer, das wie ein Stechbeitel aussieht. Sie schneiden in die Baumrinde dünne Rinnen, die im Lauf der Jahre ein großes V bilden. Zuerst wird die eine Seite bearbeitet, dann die andere. Damit die Wachstumsschicht des Baums beim Zapfen nicht verletzt wird, darf der Schnitt nur fünf, sechs Millimeter tief sein. In den Ritzkanälen fließt der Milchsaft langsam nach unten, wo er in einem Behälter aufgefangen wird. In zwei, drei Stunden kommen 20 bis 30 Gramm zusammen. Dann ist der Saft so stark geronnen, dass der Strom versiegt.
Geübte Zapferinnen bearbeiten am Tag 200 bis 300 Bäume. Die Ernte bringen sie zur Sammelstelle, wo sie zu einem flüssigen oder festen Zwischenprodukt verarbeitet wird. Die eigentliche Vulkanisation erfolgt bei der Endproduktion in Gummifabriken – zunehmend in China, aber auch in Indien, Malaysia und Sri Lanka.
Autoreifen, Scheibenwischerblätter und Dichtungsprofile. Matratzen, Turnschuhe und Wärmflaschen. Luftballons, Fußballblasen und Haushaltshandschuhe. Nuckel und Flaschensauger für Babys, Kondome – all das wird teilweise oder komplett aus Latex hergestellt. Dennoch macht Naturkautschuk den geringeren Anteil an der Welt-Gummiproduktion aus; meistens handelt es sich um Kunstgummi, das aus Petroleum hergestellt wird. Ein Autoreifen besteht heute nur noch zu 30 Prozent aus Naturlatex.
So segensreich Naturkautschuk für die Menschheit ist, so unangenehm kann der tägliche Umgang für die Frauen und Männer sein, die dem Material gesundheitsschädliche Zusätze beimengen oder als Ärzte, OP-Schwestern und Pfleger täglich billige Einmalhandschuhe tragen müssen. Auslöser für die Latexallergie ist ein in Spuren in dem Rohstoff enthaltenes Protein, auf das sensibilisierte Personen mit Schwellungen, Juckreiz und Fließschnupfen reagieren.
Auch das Holz der Bäume wird verwendet
Kautschukbäume sind aber nicht nur wegen des Latex gefragt, inzwischen wird in Asien auch ihr gelbliches, gleichmäßiges Holz verarbeitet. Die Einkäufer müssen das Material innerhalb von 24 Stunden behandeln, damit es sich wegen des austretenden Milchsafts nicht schwarz färbt. Aus dem Holz werden vor allem Küchenbrettchen, Bürstengriffe und Möbel hergestellt.
Auch die Nachfrage nach Naturlatex steigt. Der Grund: Bis heute ist es nicht möglich, synthetisches Gummi so zäh und zugleich elastisch herzustellen wie Naturkautschuk.
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