Traditionelle Heiler brachten Forscher auf die richtige Spur zu einem Wirkstoff gegen Krebs
Anfang 1952 erhielt der kanadische Arzt Robert Laing Noble einen Brief aus Jamaika. Ein Patient schickte ihm Blätter des Madagaskar- Immergrüns mit dem Hinweis, dass traditionelle Heiler daraus einen Tee gegen Diabetes kochten. Als Noble die Blätter untersuchte, machte er eine sensationelle Entdeckung: Sie enthielten Wirkstoffe, die die Zellteilung stören. Damit konnten sie bei der Krebsbehandlung eingesetzt werden. Heute kommen diese sogenannten Vinca-Alkaloide bei der Chemotherapie gegen Brustkrebs und Leukämie zum Einsatz.
„69 Prozent aller zwischen 1980 und 2002 zugelassenen Krebsmedikamente“ sind Naturprodukte oder kopieren deren chemische Struktur, schreibt Professor Thomas Efferth in einem Aufsatz. Er erforscht an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz die Bedeutung von Naturstoffen in der Krebstherapie. Insgesamt seien etwa drei Viertel aller auf Pflanzen basierenden Medikamente im klinischen Gebrauch entdeckt worden, weil Forscher Hinweisen aus der traditionellen Medizin folgten. Ein gutes Beispiel ist die Entdeckung der im Madagaskar-Immergrün enthaltenen Vinca-Alkaloide für die Krebstherapie.
Hoher medizinischer Nutzen
Das krautartige Gewächs stammt ursprünglich aus Madagaskar, ist inzwischen aber in allen Tropengebieten verbreitet. In Brasilien, Südafrika, Indien und auf den Philippinen wird die Pflanze unter anderem gegen Skorbut, starke Blutungen, Zahnschmerzen, Bluthochdruck, bei der Behandlung chronischer Wunden und bei Wespenstichen eingesetzt, vor allem jedoch gegen Diabetes – aber nicht in der Krebstherapie.
„Nicht überraschend“ sei das, findet Professor Theodor Dingermann, Inhaber des Lehrstuhls für Pharmazeutische Biologie an der Johann- Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. „Die tropischen Heiler kannten noch keinen Krebs.“ Sie setzten die Pflanze bei anderen Erkrankungen ein. Das Gift des Madagaskar-Immergrüns könne neben der krebshemmenden Wirkung in kleinen Dosen das Immunsystem anregen und so Hilfe zur Selbsthilfe leisten, erklärt der Biologe.
Vinca-Alkaloide sind Zellgifte. Da sie die Teilung der Zelle unterbinden, stirbt diese ab. Bei Krebserkrankungen teilen sich Zellen unkontrolliert. Diesen Prozess soll die Chemotherapie bremsen. „Vinca-Alkaloide wirken genau auf die richtige Weise“, betont Dingermann.
Allerdings bekämpfen sie nicht nur Krebszellen, sondern alle Zellen mit einer hohen Teilungsrate – vor allem solche in den Haaren und der Magenschleimhaut. Bereits die traditionellen Heiler berichteten beim Madagaskar- Immergrün von Nebenwirkungen wie Haarausfall und Übelkeit. Diese plagen auch Krebspatienten während der Chemotherapie mit Vinca-Alkaloiden.
„Ohne diese Wirkstoffe wäre die moderne Krebstherapie kaum vorstellbar“, stellt Thomas Efferth fest. Der Experte weiß, dass es besonders häufig Giftpflanzen sind, die als Krebsmedikament eingesetzt werden können.
Schutz vor Fressfeinden
Auch das Madagaskar-Immergrün ist hochgiftig. „Pflanzen haben kein eigenes Immunsystem, um sich gegen Krankheiten zu schützen, und können auch vor Fressfeinden nicht einfach weglaufen“, sagt Efferth. Deshalb hätten einige Gewächse starke Gifte entwickelt, deren komplexe Strukturen sich im Labor aber kaum nachbauen ließen. „Wirkstoffe, welche die Evolution über Jahrmillionen zuwege gebracht hat, kann sich kein Chemiker im Labor ausdenken“, sagt der Experte.
Das gilt auch für die Vinca-Alkaloide: Um daraus Medikamente herzustellen, brauchen Forscher den Naturstoff, den sie im Labor abwandeln. Während das Immergrün mit seinen weißrosa Blüten in Deutschland als Zierpflanze bekannt ist, wird es in Indien, China und den USA sogar auf Plantagen angebaut. Große Mengen an Blättern sind nötig, um den Wirkstoff zu gewinnen, denn die wichtigsten Vinca-Alkaloide Vincristin und Vinblastin sind nur zu 0,005 beziehungsweise 0,001 Prozent im Blatt enthalten.
Das macht den Wirkstoff teuer. In Zukunft könnte daher die Gentechnik eine Rolle spielen. Forscher klonen die wirkstoffproduzierenden Gene des Madagaskar-Immergrüns und bringen sie in Bakterien ein, die dadurch große Mengen Vinca-Alkaloide herstellen könnten.
„Die Natur ist die größte Inspiration für Arzneimittelforscher“, betont Efferth. Von den etwa 250.000 existierenden höheren Pflanzenarten sind bisher nur etwa zehn Prozent auf medizinischen Nutzen untersucht. Spektakuläre Entdeckungen wie die Vinca-Alkaloide kommen selten vor. Dennoch bestärken sie die Forscher darin, in der Natur weiter nach neuen Medikamenten zu suchen.
Bildnachweis: Panthermedia/Liane Matrisch