Der Zwang, immer dünner zu werden, kann das Leben kosten. Betroffene brauchen professionelle Hilfe

Für viele Jugendliche gibt es derzeit einen Pflichttermin: Donnerstagabend, wenn Heidi Klum in ihrer Fernseh-Show „Germany’s next Topmodel“ sucht. Dann fiebern sie nicht nur mit, welche Kandidatinnen es in die nächste Runde schaffen. Viele Zuschauerinnen glauben, sie selbst müssten den strengen Auswahlkriterien der Jury genügen. Und oft heißt das: Bin ich dünn genug?

„Wir merken ganz deutlich, dass die Show Einfluss auf junge Mädchen hat“, sagt Ingrid Mieck von Cinderella, einer Münchner Beratungsstelle für Essgestörte. Seit vor zwei Jahren die erste Staffel lief, würden immer häufiger schon 13- bis 15-Jährige Hilfe suchen: „Schlanke Mädchen mit ganz normalen Figuren, die klagen, ihre Oberschenkel seien zu dick.“
Völlig neu ist der Trend nicht. In den vergangenen zehn Jahren habe sich aber das „Einstiegsalter“ für Essstörungen nach vorne verschoben, beobachtete die Psychologin. Schon vor der Pubertät entwickeln heute viele Mädchen den übertriebenen Wunsch nach Schlankheit. An zweifelhaften Vorbildern mangelt es nicht: untergewichtige Models auf den internationalen Laufstegen und Hollywoodstars, die sich in Kleidergröße zero hungern – das entspräche in Deutschland einer nicht vorhandenen Größe 32.

In einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung äußerten mehr als die Hälfte der 13- bis 14-Jährigen den Wunsch, dünner zu sein. Fast jedes dritte Mädchen und jeder sechste Junge zwischen 11 und 17 Jahren weist Zeichen eines gestörten Essverhaltens auf, zeigte eine Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Dazu zählen Jugendliche, die maßlos essen, ebenso wie solche, die unfähig sind, Essen einfach zu genießen. Stattdessen verbieten sie sich bestimmte Lebensmittel, halten strenge Diätpläne ein und zählen Kalorien.

Solch krankhaftes Essverhalten äußert sich als Bulimie (Ess-Brech-Sucht), Magersucht oder sogenanntes Binge-Eating. Bei letzterem „verschlingen“ (englisch: „to binge“) die Betroffenen in Fressanfällen riesige Mengen von Lebensmitteln und sind deshalb auch meist übergewichtig. Bulimiker sind dagegen in der Regel normalgewichtig (obwohl viele von ihnen als Kinder übergewichtig waren), haben aber große Angst zuzunehmen und kontrollieren ihr Gewicht stark. Ihr gebremstes Essverhalten wird immer wieder von heftigen Heißhungeranfällen unterbrochen. Dann stopfen sie enorme Mengen in sich hinein, oft Kalorienreiches wie Kuchen und Fertigpizza. Nach der Attacke erbrechen sie mit Absicht. Manche treiben Sport im Übermaß oder nehmen Abführ- und Entwässerungstabletten missbräuchlich ein.

Als gesundheitlich gefährlichste Essstörung gilt die Magersucht (Anorexia nervosa). Dem Zwang, sich dürr zu hungern, erliegen vor allem junge Frauen. Jährlich erkrankt in Deutschland mindestens eine von 200 neu. Männer sind deutlich seltener betroffen, ihr Anteil an den Magersüchtigen liegt nach Schätzungen von Experten bei acht bis zehn Prozent. Der schwierige Übergang vom Kind zum jungen Erwachsenen, während dem Jugendliche Phasen tiefer Verunsicherung erleben, ist die Zeit der größten Gefährdung: Am häufigsten entwickelt sich das Leiden im Alter zwischen 14 und 18 Jahren.

„Magersucht ist eine sehr ernste psychische Erkrankung“, warnt Martina de Zwaan, Professorin an der Universität Erlangen und Sprecherin des Forschungsverbundes zur Psychotherapie von Essstörungen. „Über einen Zeitraum von zehn Jahren sterben sechs bis sieben Prozent der Betroffenen.“ Die Todesursache sind oft Infektionen, denen der ausgehungerte Organismus keinen Widerstand mehr entgegensetzen kann.

Die lang anhaltende Mangelernährung bringt den Elektrolythaushalt des Blutes durcheinander – lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen drohen . Auch wer die Krankheit übersteht, trägt nicht selten dauerhaft gesundheitliche Schäden davon: ruinierte Zähne, brüchige Knochen oder kranke Nieren. Damit ist die Magersucht für junge Frauen das gefährlichste psychische Leiden.
 
„Meine Tochter stochert nur noch in ihrem Essen herum. Ich habe Angst, dass sie an einer Essstörung leidet. Ich weiß aber nicht, wie ich sie darauf ansprechen soll.“ Mit solchen und ähnlichen Anfragen wenden sich besorgte Eltern an die Münchner Beratungsstelle Cinderella. „Wir empfehlen dann, das Gespräch zu suchen, allerdings nicht vor der ganzen Familie, sondern zu zweit“, sagt Ingrid Mieck. Sie rät, das Problem offen, aber nicht aggressiv anzusprechen. Mit einem vorwurfsvollen „Du bist magersüchtig“ erreiche man lediglich, dass sich die Betroffenen völlig verschließen. Wer sich mit seinen Nöten ernst genommen fühlt, wird eher bereit sein, eine Beratungsstelle aufzusuchen.

Oft gelingt es Jugendlichen, ihre Essstörung lange zu verbergen. Ein deutliches Zeichen für eine Magersucht ist der Wunsch abzunehmen in Verbindung mit einem Gewichtsverlust, ohne dass andere gesundheitliche Gründe vorliegen. Eine Bulimie sei schwerer zu erkennen, sagt Mieck. Ein Hinweis könne sein, wenn jemand große Mengen isst, ohne zuzunehmen, oder nach dem Essen regelmäßig auf die Toilette verschwindet. „Meist geht die Essstörung mit sozialem Rückzug und depressiver Verstimmung einher“, ergänzt die Psychologin.

Je früher eine Essstörung behandelt wird, desto größer sind die Heilungschancen, denn ein gestörtes Essverhalten wird schnell zur Gewohnheit. Während Betroffene stolz sind, ihren Körper und das grundlegende Bedürfnis nach Nahrung zu beherrschen, ist ihnen längst jede Kontrolle über ihr Verhalten entglitten. „Allen Essgestörten ist gemeinsam, dass sie ununterbrochen an das Essen denken müssen“, erläutert Mieck. „Sie wachen morgens auf und überlegen als Erstes, was sie essen dürfen und was nicht.“

Warum es Magersüchtigen unmöglich ist, wieder normal zu essen, erscheint nicht nur Angehörigen und Freunden oft unverständlich. Auch wissenschaftlich ist längst nicht geklärt, warum sich der Ausstieg aus dem Hungerexzess derart schwierig gestaltet. Genauso wenig weiß man darüber, welche Umstände darüber entscheiden, dass aus einer figurbewussten Person eine magersüchtige wird. Wissenschaftler vermuten, dass genetische Faktoren, Persönlichkeitsmerkmale, belastende Erlebnisse und Familieneinflüsse ein unheilvolles Zusammenspiel entfalten.

Dass der ständige Hungerzustand im Gehirnstoffwechsel Spuren hinterlässt, ist wissenschaftlich nachgewiesen. Zudem nehmen Magersüchtige und auch viele Bulimiker ihren Körper völlig falsch wahr. Sie sehen selbst dann noch dralle Fettpolster, wenn sich die Rippen abzeichnen.

In der Psychotherapie geht es auch darum, den Raum zu füllen, den die ununterbrochene Beschäftigung mit Kilos, Kalorien und Knäckebrot bislang eingenommen hat. Für Betroffene heißt das, den liebevollen Blick auf die Person zu entdecken und zuzulassen, die sie selbst bislang nur durch ein enges Raster von Verboten sehen konnten. Für Magersüchtige doppelt schwer: „Sie sind in der Regel sehr ehrgeizig“, sagt Mieck. Wer mit sich selbst nachsichtiger umgeht, entwickelt seltener eine Essstörung.

Die Möglichkeiten der Psychotherapie sind jedoch begrenzt. Für 30 bis 50 Prozent der Betroffenen ist sie erfolgreich. Jede Fünfte erlernt zumindest ein kontrolliertes Essverhalten. Ebenso viele finden keinen Ausweg aus der Hungerspirale. Immerhin: „Kinder und Jugendliche haben eine günstige Prognose“, sagt Martina de Zwaan.

Gefährdet? Die Checkliste

Die Beratungsstelle „Cinderella“ hat eine Liste zusammengestellt mit Indizien, die auf eine Essstörung hinweisen können:

-Ist es Ihr Ideal, besonders schlank zu sein?

-Haben Sie bereits viele Diäten probiert, um abzunehmen?

-Sehen Sie Gewicht und Aussehen als Lösung Ihrer Probleme an?

-Unterteilen Sie Lebensmittel in „erlaubte“ und „nicht erlaubte“?

-Erbrechen Sie nach dem Essen absichtlich?

-Benutzen Sie Schilddrüsenpräparate, Abführ- oder Entwässerungsmittel, oder treiben Sie übermäßig Sport, um abzunehmen oder nicht zuzunehmen?

-Ist Essen/Nicht-Essen für Sie ein immerwährender Kampf?

-Leiden Sie unter Schuldgefühlen, Depressionen und Hilflosigkeit in Zusammenhang mit Essproblemen?

-Fühlen Sie sich dem ewigen Kreislauf von Diät und Heißhungeranfällen hilflos ausgeliefert?

Cinderella rät, Hilfe zu suchen, wenn zwei oder mehr Punkte zutreffen.

Apotheken Umschau, Bildnachweis: Jupiter Images GmbH / Goodshot