Jeder kennt die Melodien, die plötzlich im Kopf erklingen. Doch nicht alle Menschen sind gleichermaßen anfällg dafür

Es war auf einer Autofahrt von Berlin an die Ostsee. Im Fond saß der siebenjährige Max, schaute aus dem Fenster und sang: „Na na na na naa, live is life, na na na na naa.“ Zwei Zeilen aus dem Hit der Gruppe Opus, zwei Stunden lang, ohne Pause. Die Mitfahrer hielten sich die Ohren zu, sie flehten, sie schimpften. Keine Chance. Na na na na naa. Max hatte einen Ohrwurm, der singen wollte.

Ohrwürmer sind die Piraten der Klangwelt. Sie heißen „Live is Life“ oder „Atemlos“, „­Tage wie diese“ oder „Jingle Bells“, sie entern den Kopf und bleiben so lange, wie es ihnen passt. Selten handelt es sich um ganze Kompositionen, nur gelegentlich um Instrumentalstücke. Meist sind es Melodien, die sich in einer akustischen Endlosschleife ständig wiederholen. Die Opfer sind oft leicht zu erkennen: Sie summen, pfeifen und singen, wippen und trom­meln im Takt, ohne dass ein Lautsprecher oder Kopfhörer sie beschallt. Es trifft Zweijährige ebenso wie Achtzigjährige, Frauen wie Männer – und das rund um die Welt.

Musikliebhaber besonders betroffen
Praktisch jeder Mensch hatte schon einmal einen Ohrwurm. Berufsmusiker und alle, die der Musik einen hohen Wert beimessen, sind besonders oft betroffen. Zwar wird das Phänomen zunehmend häufiger beobachtet. Von einer Plage kann aber nicht die Rede sein: Rund 80 Prozent der Ohrwürmer werden laut Studien positiv bewertet.
Warum setzen sich bestimmte Melodien im Kopf fest? Wie kommt es, dass sie plötzlich auftauchen und uns für eine Weile beherrschen? Antworten auf diese Fragen suchen ­Forscher seit Langem. So deutete der Psycho­analytiker Sigmund Freud Ohrwürmer Ende des 19. Jahrhunderts als unbewusste Wunschäußerungen – eine höchst spekulative Theorie. Objektivere Erkenntnisse liefern heute die Neurowissenschaften und moderne bildgebende ­Verfahren. Sie lassen uns zuschauen, wie ein Ohrwurm im Kopf rumort: Los geht es, vereinfacht gesagt, indem das Stimmzentrum in der linken Hirnhälfte dem Hörzentrum in der rechten Hälfte etwas vorsingt. Weil Rechts darauf ­positiv reagiert, singt Links immerzu weiter. Das Gehirn produziert also Musik für sich selbst – in singender, klingender Dauerschleife.

Keine Entstehungsformel 
Ob ein Ohrwurm entsteht – darin sind sich die Forscher einig –, hat mehr mit der Person zu tun, die die Musik hört, als mit der Struktur der Musik. Die Ohrwurmformel, die aus einem Stück automatisch einen Hit macht, gibt es jedenfalls nicht. Dennoch weisen besonders eingängige Kompositionen bestimmte Grundmus­ter auf: Oft enthalten sie einfache, häufig wiederholte und angenehm melodische Passagen mit hohem Wiedererkennungswert. Gerade in der Popmusik können solche Sequen­zen über den Verkaufserfolg eines Stücks entscheiden. 
Doch alle Tricks der Produzenten nützen nichts, wenn die Musik den Hörer kaltlässt. Sie muss emotional berühren, damit ein Ohrwurm daraus wird. Ein paar Worte, eine bestimmte Klangfolge – schon kann der Funke überspringen. Das passiert meist in Alltagssituationen, etwa beim Aufräumen oder beim Warten auf den Bus, sagen Forscher. Nur selten nistet sich ein Ohrwurm in Zeiten starker Anspannung ein.
Gegen unliebsame Ohrwürmer gibt es ein paar Tricks: Meist wird Ablenkung empfohlen – beispielsweise durch andere Musikstücke, stark gewürztes ­Essen oder eine Tätigkeit, bei der man sich konzentrieren muss. Manche Menschen fangen gerade dann mit der Steuererklärung an. Andere bringen ihr Gehirn aus dem Takt, indem sie die Wörter des Liedtextes rückwärts aufschreiben und den enstehenden Buchstabensalat singen, um ihr Gehirn aus dem Takt zu bringen. Statt na na na na naa also an, an, an, an, aan. Auf die Idee kam der kleine Max nicht. Er hörte erst auf, als das Auto an der Ostsee-Promenade stoppte. Einfach abwarten funktioniert manchmal auch.

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