Die Heilpflanze „Roter Fingerhut“ spielt auch in der Welt der Sagen und Legenden eine große Rolle
Malerische Lichtungen, saftig grüne Senken und felszerklüftete Waldränder – an Orten wie diesen wächst der Rote Fingerhut besonders gut, eine bis zu zwei Meter hohe, zweijährige Pflanze mit purpurroten Blütenkelchen.
Weil die Menschen seit jeher solche Plätze lieben und gern daran glauben wollen, dass hier Elfen und Feen wohnen, war es nur folgerichtig, dass sich Pflanze und Elfenwelt auf märchenhafte Weise verbanden. Besonders in der nordischen und irischen Mythologie gilt der Fingerhut (Digitalis) als typisches Elfengewächs.
Darauf weist auch sein ursprünglicher Name „Folk’s glove“ – Handschuh des (Elfen-)Volks – hin. Die Blüten sollten dem Volksglauben nach als Hüte der Fabelwesen dienen; deren Fingerabdrücke seien als weiß umrandete, dunkle Tupfer im Inneren der Blütenkelche erkennbar.
Doch wie das Leben – vor allem in Märchen und Sagen – so spielt: Auch das Böse bedient sich oft der schönen Dinge. So sollen böse Feen den Füchsen nicht nur beigebracht haben, sich durch das Läuten der Blumenglöckchen gegenseitig vor Jägern zu warnen.
Die Blüten sollen den Rotröcken auch dazu gedient haben, auf leisen Pfoten aus dem Wald zu schleichen und in die Hühnerställe der umliegenden Dörfer zu gelangen. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Pflanze ihren heute gültigen englischen Namen „Foxglove“ (Handschuh des Fuchses) erhielt.
Im Mittelalter war der Rote Fingerhut aber nicht nur Gegenstand mythischer Erzählungen, sondern auch ein Bestandteil medizinischer Therapien. Vor allem „Geisteskrankheiten“ wurden damals mit der Giftpflanze behandelt.
Menschen mit dem „bösen Blick“, einem vermeintlich Unglück bringenden Ausdruck in den Augen, mussten stets fürchten, mit dem Extrakt behandelt zu werden. Fürchten deshalb, weil die Therapie allzu oft einen tödlichen Ausgang nahm. Nicht zuletzt deshalb geriet die Pflanze immer mehr in Vergessenheit.
Erst im 16. Jahrhundert fand der Fingerhut Eingang in die Fachliteratur. In seiner botanischen Abhandlung „Historia stirpium“ aus dem Jahr 1542 beschreibt ihn der deutsche Mediziner Leonhart Fuchs. Genutzt wurde die Heilpflanze zur Behandlung der Schwindsucht sowie als Brech- und Abführmittel.
„In erster Linie verwendete man sie aber äußerlich bei der Behandlung von Geschwülsten oder Abszessen“, erklärt Dr. Johannes Mayer, Medizinhistoriker an der Universität Würzburg. 400 Jahre später habe man dann auch tatsächlich eine zelltötende Wirkung nachweisen können und sogar ernsthaft überlegt, Fingerhut-Extrakte zur Behandlung von Krebsgeschwüren einzusetzen.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, so beschreibt es Professor Jean-Marie Pelt, Pharmazeut und Botaniker an der Universität Metz (Frankreich), erfuhr der englische Arzt William Withering von einer Kräuterfrau, die über einen Extrakt gegen die durch Herzschwäche verursachte Wassersucht (Ödeme) verfüge.
Withering forschte nach und erkannte schnell, dass nur der Fingerhut für die Wirkung des Kräutergemischs verantwortlich sein konnte. Es folgten mehrere Experimente an Patienten, bei denen die Pflanze sich als wirksam gegen Ödeme erwies.
Der experimentierfreudige Arzt habe auch herausgefunden, berichtet Pelt, dass der Wirkstoff sich im Körper anreichern muss, weil die Wirkung bei längerer Anwendung deutlich zunahm. Heute kennt man die Inhaltsstoffe genau. So sind die wirksamen Herzglykoside des Fingerhuts auch jetzt noch in manchen Medikamenten enthalten.
Allerdings spielen sie nur mehr eine untergeordnete Rolle in der Herztherapie, denn das therapeutische Fenster – der Bereich zwischen der minimalen wirksamen und der niedrigsten tödlichen Dosis – ist außerordentlich klein. Wegen seiner Giftigkeit eignet sich der Fingerhut trotz seines prächtigen Aussehens auch nicht ideal als Gartenpflanze. Vor allem Familien mit Kindern sollten auf ihn verzichten.
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