Auch Ängste und seelische Probleme können schuld sein, wenn Kronen, Brücken oder Prothesen nicht passen Das Foto an der Wand ist ein Blickfang. Zwischen rot geschminkten Lippen blitzen weiße Zähne hervor. Ob das die eigenen sind? Egal. Das Foto versprüht jedenfalls Erotik. Das Bild hängt in der Beratungsstelle „Seele und Zähne“ in Berlin. Wer hier in die Sprechstunde kommt, kann über seine Botschaft noch länger nachsinnen: Schöne Zähne sorgen wie kaum ein anderer Körperteil dafür, dass wir uns wohlfühlen. Stimmt alles mit unserem Gebiss, finden wir uns attraktiv, küssen und lachen und beißen auch in Gesellschaft unbekümmert in ein Vollkornbrötchen.
 
Seele und Zähne, wissen Experten, hängen zusammen. „Zähne können Geschichten erzählen“, erläutert Dr. Bettina Kanzlivius, „und sie leiden mit, wenn die Psyche aus der Balance gerät.“ Seit nunmehr zwei Jahren kümmert sich die Berliner Zahnärztin zusammen mit Psychotherapeutin Hilde Urnauer um Patienten, bei denen ihr Zahnarzt nicht mehr weiterweiß.
 
In die kostenlose Sprechstunde am Montag kommen Menschen mit extremer Angst vor einer Zahnbehandlung oder Knirscher, die nachts die Zähne aufeinanderreiben. Bei Würgereiz, unerklärbarem Brennen der Schleimhaut oder Schmerzen im Mund forschen die beiden Frauen ebenfalls nach einer tiefer liegenden Ursache. Ihre niedergelassenen Kollegen füllen auch dann einen Überweisungsschein aus, wenn die Prothese selbst nach unzähligen Nachbesserungen nicht passen will.
 
Die Zähne leiden mit
 
Renate Schuster (Name geändert) kann sich mit ihrer Prothese nicht anfreunden. Dass der Zahnarzt ihr damals mehrere Zähne gezogen hat, hält die 64-Jährige bis heute für eine Fehlentscheidung. „Ich fühle mich falsch behandelt“, klagt Schuster. Im Gespräch mit Kanzlivius und Urnauer stellt sich heraus, dass der Zahnverlust in die Zeit ihres Rentenbeginns fiel. „An die neue Situation als Rentnerin muss man sich ja ohnehin erst mal gewöhnen“, tastet sich die Psychotherapeutin vor, „das ist sicher zusätzlich belastend für Sie …“
 
Zungenbrennen quält Hans Krausser (Name geändert). Weder ein Nachschliff der Prothese noch Allergietests oder Schmerzmittel bringen Abhilfe. Als der 55-Jährige vom kürzlichen Tod seiner Frau erzählt, raten die Fachfrauen ihm zu einer Psychotherapie und geben Krausser eine Liste von Therapeuten in der Nähe mit. Sie wissen: Kummer kann Schmerzen verstärken.
 
Psychosomatische Störungen spielen eine große Rolle

 
Bei 20 bis 25 Prozent der Patienten in deutschen Zahnarztpraxen spielen psychosomatische Störungen eine Rolle, schätzt Dr. Wolfgang Schmiedel, Präsident der Berliner Zahnärztekammer und Initiator des Vorzeigeprojektes, das zugleichen Teilen von der Psychotherapeuten- und der Zahnärzte- Kammer in Berlin finanziert wird. „Psycho“ bedeutet Seele, und „soma“ ist das griechische Wort für Körper.
 
Bis zu sechs Patienten „ohne Befund“ berät das Berliner Team jeden Montag „und stellt viele Fragen und hört aufmerksam zu“, beschreibt Diplom-Psychologin Urnauer das sehr behutsame Vorgehen. Was stört? Schmerzen? Seit wann? Wie ist Ihre Lebenssituation? Eher selten nimmt der Patient zusätzlich noch auf dem Behandlungsstuhl Platz, damit die Zahnärztin auch die Mundhöhle inspiziert.
 
„Wir sind keine Gutachter“, betont Kanzlivius, auch wenn zahnmedizinisches Wissen ihre Arbeit erleichtere. „In bis zu 80 Prozent der Fälle braucht die Seele Hilfe.“ Nicht immer ist eine Psychotherapie vonnöten. Manchem gelingt es schon mithilfe von Entspannungstechniken, innere Verkrampfungen zu lösen.
 
Umbruchphasen oft Auslöser
 
Diese Erfahrung hat auch Dr. Anne Wolowski gemacht. „Der Mund hat eine Ventilfunktion“, erklärt die Zahnärztin von der Abteilung für Psychosomatik in der Zahnheilkunde an der Universität Münster. Die Kinder verlassen das Haus, der Partner geht in Rente, Eltern brauchen Pflege, der Job ist weg. „Solche Umbruchphasen sind häufig Auslöser von Zahnproblemen und Gesichtsschmerzen.“
 
Die meisten Patientenakten in Münster stammen von Frauen zwischen 55 und 60 Jahren. Im Schnitt haben sie bereits fünf Zahnärzte konsultiert und Behandlungen oft regelrecht erzwungen, um endlich von ihrem Leiden erlöst zu werden. Sie lassen sich Zähne ziehen, Wurzeln behandeln, Prothesen abschleifen, Kronen erneuern – alles vergeblich.
 
„Von meinem Zahnarzt fühlte ich mich nicht mehr ernst genommen“,erzählt Ute G.. Wegen ihrer Prothese klagte die 69-Jährige immer wieder über Schmerzen und Druckgefühle. Warum sie nach dem Besuch bei Dr. Wolowski nun erstmals schmerzfrei ist, vermag sie sich nicht zu erklären. „Sie ist einfach eine wunderbare Zahnärztin.“
 
Aufmerksames Zuhören kann Wunder wirken 
 
Der Expertin für Psychosomatik ist jedoch klar, dass allein das ausführliche Gespräch mit dem Patienten oft wirkt wie Balsam. Ob Kronen, Brücken, Implantate oder herausnehmbare Prothesen: Schuld am schlechten Sitz können natürlich auch technische Mängel sein. Das muss vorher abgeklärt werden. „Wenn wir nichts finden, muss der Patient aber akzeptieren, dass nichts gemacht wird“, sagt Zahnärztin Wolowski, die immer öfter gebeten wird, Fortbildungskurse über ihr Fachgebiet zu halten. Das Thema „Seele und Zähne“ boomt und stößt bei niedergelassenen Kollegen auf wachsendes Interesse.
 
„Wer seine Zähne verliert, hat das Gefühl, alt zu werden“, weiß Professor Günter Dhom, der als Implantologe täglich kranke Zähne ziehen muss und froh ist, heute gute Lösungen für die Lücke anbieten zu können. „Und wie dankbar sind Patienten, wenn der Zahnersatz dann perfekt passt.“ Seinen Beruf begreift der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Implantologie längst nicht mehr als rein mechanistisch. „Zahnmediziner sind auch Mediziner. Und an jedem Zahn hängt ein Mensch.“
 
Wie finde ich den richtigen Zahnarzt?

Ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis spielt mit eine Rolle, ob eine Behandlung erfolgreich ist. Wenn Sie sich nicht gut aufgehoben fühlen, ist es besser, den Zahnarzt zu wechseln, rät Psychotherapeutin Hilde Urnauer.

Größere Eingriffe sollten Sie ausführlich mit Ihrem Zahnarzt besprechen. Lassen Sie sich Alternativen erläutern, und fragen Sie nach, wenn Ihnen etwas unklar ist. Manchmal ist es sinnvoll – etwa bei Implantaten oder Parodontitis –, zu einem Spezialisten mit viel Erfahrung zu gehen. Im Einzelfall empfiehlt sich eine Zahnzusatzversicherung. Lassen Sie sich beraten.
 
Senioren Ratgeber, Bildnachweis: Digital Vision