Freie Radikale gelten als höchst gefährliche Substanzen. Doch für den Körper sind sie lebensnotwendig

Von „freien Radikalen“ ist oft die Rede, wenn es um Krankheiten geht. Aggressiv und schädigend seien diese Stoffe, heißt es dann, und sie spielen offenbar bei so ziemlich jedem Gebrechen eine Rolle – von ständiger Müdigkeit oder leichten Hautproblemen bis zu Krebs, Autoimmunerkrankungen und Alzheimer. Auch den Alterungsprozess sollen freie Radikale beschleunigen. Sind sie die Wurzel aller medizinischen Übel?
 
Mitnichten. Zwar können diese Substanzen im Körper Unheil anrichten, aber im Normalfall setzt der sich wirksam zur Wehr. Den Großteil der freien Radikale bildet der Organismus ohnehin selbst. Das lässt darauf schließen, dass sie so gefährlich nicht sein können –  denn sonst würde der Mensch sich ja ständig selbst vergiften. 
 
Dass von freien Radikalen dennoch eine Gefahr ausgehen kann, liegt an ihren chemischen Eigenschaften. „Es handelt sich dabei um Substanzen, die besonders reaktionsfreudig sind“, erklärt Professor Helmut Sies, emeritierter Leiter des Instituts für Biochemie und Molekularbiologie an der Universität Düsseldorf. Substanzen also, die nahezu unkontrolliert andere Moleküle angreifen. Man könnte sie auch als kleine Amokläufer bezeichnen.
 
Fehler im Kraftwerk der Zelle
 
Freie Radikale entstehen bei einem grundlegenden Prozess in den Zellen des Körpers: der Energieerzeugung. Dabei werden unter anderem die durch die Lunge eingeatmeten Sauerstoff-Moleküle in Wasser umgewandelt. Die im Sauerstoff gespeicherte Energie wird dadurch in eine für den Organismus nutzbare Form überführt.

Geht bei diesem Vorgang – Chemiker sprechen von einer „Reduktion“ des Sauerstoffs – etwas schief, entstehen unvollständig reduzierte Sauerstoffatome. Atome wollen aber stets komplett sein. Daher  greift der Sauerstoff das erstbeste Molekül in seiner Nachbarschaft an, dem er die fehlenden Bestandteile entreißen kann.
 
Der Angegriffene geht dabei zuweilen selbst in einen reaktionsfreudigen Zustand über, da seine chemische Struktur jetzt unvollständig ist. So kann sich die Reaktionsfreudigkeit mit jedem neuen Angriff ausbreiten. Eine Kettenreaktion droht.

Die Lage wäre aussichtslos, gäbe es nicht Substanzen, die Attacken eines freien Radikals unbeschadet überstehen – sogenannte Radikalfänger. Sie unterbrechen die Kettenreaktion und verhindern somit Schlimmeres. Zu diesen Rettern zählen vor allem bestimmte körpereigene Enzyme. Auch eine Reihe von Carotinoiden, Lycopin und Vitamine, die der Mensch mit der Nahrung aufnimmt, können freie Radikale abfangen.

Einen hundertprozentigen Schutz bieten Radikalfänger allerdings nicht, und es macht meist auch keinen Sinn, sie dem Körper zusätzlich zuzuführen. Um Schäden vorzubeugen, sollte aber kein Mangel herrschen. „Zwar verfügen wir über Reparaturmechanismen, um solche Schäden auszugleichen“, sagt Helmut Sies. Moleküle oder Zellen, die eine Störung aufweisen, werden entfernt. Wird das Gewebe jedoch durch freie Radikale überstrapaziert, nimmt es unter Umständen dauerhaft Schaden, und dies kann Ursache vieler Krankheiten sein.
 
Das kommt aber weit seltener vor, als oft behauptet wird. Betroffen sind eigentlich nur Menschen, die an Mangelernährung leiden und deshalb dauerhaft zu wenig Radikalfänger zu sich nehmen. Auch die Annahme, diese Stoffe könnten das biologische Altern bremsen, wird durch aktuelle Laborstudien an Versuchstieren nicht gestützt.
 
Gehilfen der Immunabwehr

Ein großes Problem wäre dagegen ein zu niedriger Gehalt an freien Radikalen im Körper. Denn mittlerweile wissen Forscher, dass der Mensch ohne die reaktionsfreudigen Substanzen gar nicht leben könnte. Die Angriffswut dieser Sauerstoffverbindungen macht sich beispielsweise die natürliche  Körperabwehr zunutze. Bestimmte Zellen des Immunsystems setzen freie Radikale ein, um unerwünschte Eindringlinge gezielt zu vernichten. Die reaktionsfreudigen Sauerstoffatome in den Abwehrzellen zerlegen die äußere Hülle von Bakterien und Viren – was das sichere Ende für die Keime bedeutet.
 
Bildnachweis: W&B/Jörg Neisel